KriminalitätswahrnehmungVollkommen losgelöst von der Realität

Nur sechs Prozent der Deutschen nehmen die Kriminalitätsentwicklung realistisch wahr. Zwei Drittel gehen von einem starken bis sehr starken Anstieg aus, dabei ist die Kriminalität in den letzten 15 Jahren kontinuierlich und deutlich gesunken. Eine Analyse.

Alter Mann schaut aus dem Fenster
Ältere Menschen sehen Kriminalität als größeres Problem als junge Menschen. Obwohl sie weniger betroffen sind. (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Alex Boyd

Alle Welt redet über über die Gefahren von Verschwörungserzählungen, Manipulation und Desinformation und deren Auswirkungen auf die Demokratie. Doch es gibt wohl kaum ein gesellschaftliches Feld, bei dem Realität und Wahrnehmung so weit auseinandergehen wie bei der Kriminalität. Das hat Folgen für Grund- und Freiheitsrechte.

Während bei einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2021 fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf Jahren ausgehen, nimmt die von der Polizei registrierte Kriminalität tatsächlich beständig und deutlich ab. Deutschland ist „eines der sichersten Länder der Welt“, stellen dementsprechend auch Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium in ihrem neuesten Periodischen Sicherheitsbericht fest, der am vergangenen Freitagabend erschienen ist. Die Rückgänge in der Kriminalität sind erheblich, doch die Angst der Bevölkerung vor ihr ist unvermindert groß. 

Im Bericht (PDF) heißt es:

Insgesamt ist das Kriminalitätsaufkommen in Deutschland seit Jahren rückläufig. Zwischen 2005 und 2019 sind die in der PKS [Polizeiliche Kriminalstatistik] erfassten Straftaten um 15 Prozent gesunken. Auch Dunkelfeldstudien zeigen, dass die Menschen in Deutschland vergleichsweise selten Opfer von Straftaten werden. Die Justizdaten weisen zudem weniger Verurteilungen und Strafgefangene aus.

Im Jahr 2019 waren mehr als die Hälfte aller registrierten Straftaten Eigentums- und Vermögensdelikte, darunter insbesondere Diebstahl und Betrug. „Insgesamt ist die seit 2005 registrierte Kriminalität von 6.391.715 in der PKS ausgewiesenen Fällen auf 5.436.401 erfasste Fälle im Jahr 2019 gesunken“, heißt es im Bericht.

Der größte Rückgang ist bei den Eigentumsdelikten zu verzeichnen, er beträgt bezogen auf die Einwohnerzahl mehr als ein Drittel (-33,7 Prozent). Auch der registrierte Schaden in diesem Bereich ist deutlich gesunken, von 8,5 Milliarden Euro auf 6,6 Milliarden Euro. Rückgänge lassen sich aber auch bei der Sachbeschädigung (−22,1 Prozent), den Betrugsdelikten (−12,9 Prozent) und der Gewaltkriminalität (−15,4 Prozent) feststellen. Auch bei der Wohnungseinbruchkriminalität, dem Angstgegner der Bevölkerung, gab es deutliche Rückgänge. Hier sank die Zahl der Fälle von 109.736 im Jahr 2005 auf 87.145 im Jahr 2019. Zuwächse gab es hingegen bei den Betäubungsmitteldelikten (+28,7 Prozent). Änderungen gibt es bei den Tatmitteln durch technische Entwicklungen, so verschieben sich einige Eigentumsdelikte zum Beispiel immer mehr ins Internet und es gibt über die Zeit mehr Betrug bei abnehmenden Diebstählen.

Eines der sichersten Länder der Welt

Gewaltkriminalität nahm 2019 mit 3,3 Prozent nur einen kleinen Teil der Gesamtkriminalität ein. Auch bei den Verurteilungen zeigt sich: 84,7 Prozent aller Strafen sind Geldstrafen, nur die wenigsten haben so gravierende Straftaten begangen, dass sie ohne Bewährung ins Gefängnis müssen. Und von denen, die eine Gefängnisstrafe erhalten haben, bekamen weniger als zehn Prozent Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren. Auch die Straftaten Jugendlicher sind zwischen 2005 und 2019 deutlich zurückgegangen, das führte zu einer Halbierung der Verteilungen nach Jugendstrafrecht von 120.000 auf unter 60.000.

Deutschland weist auch im internationalen Vergleich bei wichtigen Indikatoren deutlich niedrigere Fallzahlen auf, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts. „Bei vorsätzlichen Tötungsdelikten und schweren Sexualstraftaten liegt Deutschland zwei Drittel unter dem EU-Durchschnitt.“ Auch Bundesinnenminister Seehofer sagt: „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt.“

Im Land der gefühlten Unsicherheit 

In Deutschland ist die Wahrnehmung von Kriminalität seit Jahren vollkommen entkoppelt von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. Während in der Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf  Jahren ausgehen, schätzen nur sechs Prozent der Befragten die Kriminalitätsentwicklung realistisch ein. Diese Zahlen decken sich mit einer Umfrage aus dem Jahr 2016, in der mehr als zwei Drittel der Befragten von dieser Fehlannahme ausgingen

Woher diese Fehlwahrnehmung kommt, ist nicht abschließend untersucht. Die Studie der KAS zeigt sich hier einigermaßen ratlos: 

Ein genauerer Blick macht […] deutlich, dass die Problemwahrnehmung einer eigenen Logik folgt und nur bedingt an die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung gekoppelt ist. Die Sorge um und die Zunahme an Kriminalität lassen sich nicht mit sinkender tatsächlicher Kriminalität aus der Welt schaffen.

Einen Anteil an diesem Phänomen haben vermutlich Nachrichtenwertfaktoren der Negativität und Nähe, die Medien dazu bringen, Berichte mit Schaden und Kriminalität in unserer Nähe als relevanter zu bewerten. So entsteht medial eine Schieflage, die nicht der realen Entwicklung entspricht. Diese Schieflage wird befeuert von einer Innenpolitik, die auf diese Fehlwahrnehmungen eingeht, was die Berichterstattung zum Thema Sicherheit weiter verstärkt. Hinzu kommt eine Gesellschaft, die immer mehr Ängste empfindet. Solche Ängste drücken sich zum Beispiel darin aus, dass in den Siebziger Jahren 90 Prozent der Grundschüler:innen alleine zur Schule gingen und 2012 nur jede:r zweite. 

Weltkarte Risiko / Kriminalität
Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt. - Alle Rechte vorbehalten A3M Global Monitoring

Zwei Drittel der Befragten in der KAS-Studie gehen zudem davon aus, dass Kriminalität ein großes oder sehr großes Problem sei. Bei den über 65 Jahre alten Menschen sind es sogar mehr als drei Viertel, die das so sehen. Dabei ist diese Altersgruppe am wenigsten von Kriminalität betroffen, wie der Sicherheitsbericht feststellt. Anhänger:innen von AfD, SPD und CDU halten dabei Kriminalität deutlich stärker für ein Problem als die von Linke, Grünen und FDP.

Problem für die Bürgerrechte

Das Problem der Kriminalitätswahrnehmung nimmt in der bürgerrechtlichen Betrachtung und Argumentation bislang noch keinen so großen Stellenwert ein. Dabei könnte hier viel zu holen sein, wenn der grassierenden Fehlwahrnehmung weiter Teile der Gesellschaft Fakten entgegengestellt werden – und so ein realistisches Bild der Bedrohung durch Kriminalität entsteht, das eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik möglich macht.

Denn mit der Fehlwahrnehmung dürfte die fortwährende Verschärfung von Gesetzen und Überwachung in Teilen zusammenhängen. Wer ein falsches Bild von der Kriminalität hat, der akzeptiert auch schneller Maßnahmen gegen diese. In der Studie der KAS stimmen Anhänger:innen aller Parteien mittlerweile mehrheitlich der Videoüberwachung öffentlicher Plätze zu und sogar die Gesichtserkennung hat bei Unions- und SPD-Anhänger:innen eine Mehrheit.

Die Angst vor Kriminalität hat ein politisches Betätigungsfeld geschaffen, in dem Innenpolitiker „anpacken“ und Handlungsbereitschaft mit immer neuen Maßnahmen zeigen können. Denn da, wo Bürger:innen ein Problem sehen, können Politiker:innen etwas gegen das Problem tun. Auch wenn das Problem in der Realität immer kleiner und kleiner wird. In einem der sichersten Länder der Welt.

13 Ergänzungen

  1. Wir nehmen unsere (Um-)Welt wahr, wie wir sie von Medien präsentiert bekommen. Wer sich täglich den ach so beliebten lokalen „Blaulicht-Kolumnen“ regionaler Zeitungen lustvoll hingibt, glaubt in einer Welt des Verbrechens zu leben.

    1. Das glauben berufsbedingt auch die meisten Polizisten. Der Bürger wird dann nur noch als potentieller Täter gesehen – und entsprechend behandelt. Der Demokratie schadet das immens.

    2. „Blaulicht-Kolumnen“ prägen die Weltsicht, „Blaulicht-Statistiken“ beschreiben die Welt, zumindest einen Teil-Aspekt. Doch Statistiken zu verstehen bleibt jenen vorbehalten, die ein Mindestmaß an Fähigkeiten besitzen, die ein Verständnis zumindest ermöglichen.

      „Man kann den Bericht, der 232 Seiten umfasst, im Internet leicht finden, was ich hiermit ausdrücklich empfehlen möchte. Wer sich für Fragen der Sicherheit und der Kriminalität interessiert und gern die eine oder andere Weltbetrachtung dazu kundtut, sollte den Bericht anschauen. Sie müssen ihn nicht Seite für Seite lesen. Wichtig für alle Schlaumeier ist es in jedem Fall, die Seiten 15 bis 20 zu lesen: »Erläuterungen zur Datengrundlage«. Da steht, was die statistischen Daten aussagen und was nicht, ob und wie man sie vergleichen kann und wo ein paar Stolpersteine des Verständnisses liegen.“ (Thomas Fischer, ehem. BGH-Richter)

      https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kriminalitaet-thomas-fischer-ueber-den-periodischen-sicherheitsbericht-a-aa70639a-f518-45a4-ad87-21c3b187c439

      Sein Rat: „Lesen Sie am nächsten Wochenende mal zwei Stunden im Dritten Periodischen Sicherheitsbericht! Freuen Sie sich über alles, was besser wurde! Das ist gut gegen Corona-Furcht, mindestens so spannend wie das Herumstehen in vollen Kneipen, und außerdem: Es schadet auf keinen Fall der Sicherheit oder den Verbrechensopfern, wenn Sie sich mal über was anderes freuen als über die neueste Weltuntergangs-Meinung.“

  2. Wie mein Vorredner schreibt: die Boulevard-Presse, analog und digital, braucht „Sensationen“, denn davon hängt ihr Marktwert ab. Da man zumindest in größeren Städten, bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, den plakativen Schlagzeilen von Bild & Co nicht entkommt, wird man unwillkürlich an eine gefährliche (Um-) Welt erinnert.

    Dass die Einbrüche zurückgegangen sind, kann man eigentlich der Pandemie zuschreiben, nämlich dem Home-Office! Da viele Menschen von zu Hause aus arbeiteten, war es kein Wunder, dass z. B. die im Moment üblichen Dämmerungseinbrüche zurückgegangen sind. Ebenfalls trug dazu die Ausgangssperre bei, dass in diesem Feld der Kriminalität die Quantität abgenommen hat.

    Ob sich der Trend in der Statistik so halten kann, sei dahin gestellt. Es wäre zumindest wünschenswert. Der subjektive Eindruck innerhalb der Gesellschaft wird sicherlich gleich bleiben.

    1. Die Print-Medien sind eben von Verkäufen abhängig. Und wer ist die größte Bevölkerungsgruppe und kauft auch heutzutage noch Print? Genau: Menschen über 60.

    2. Nicht unbedingt. Die Einbrüche gingen auch vor Corona schon seit Jahren zurück.
      Aber natürlich verstärkt Corona den Trend.

    3. Dem Bericht liegen die in der PKS erfassten Straftaten bis Ende 2019 zugrunde. Corona, die damit verbundenen Ausgangssperren und Homeoffice hatten also (noch) keinen Einfluss auf den Rückgang der Wohnungseinbrüche.

  3. „Ältere Menschen sehen Kriminalität als größeres Problem als junge Menschen. Obwohl sie weniger betroffen sind.“

    Da verwundert der umfassende Ausbau sämtlicher staatlicher Sicherheitsapparate in den letzten Jahren nicht mehr: Innenminister sind ALT und MÄNNLICH. Kein(e) Innenminister*in im Bund oder den Ländern ist unter 50. Im Bund gab es sowieso noch nie eine Innenministerin. Nur 2 von 16 Landes-Innenminister*innen sind Frauen.

    1. Deine These hält keiner empirischen Überprüfung stand.

      Schau mal nach Schleswig-Holstein. Dort darf die Polizei seit neustem Elektroschockpistolen und Bodycams einsetzten. Zudem darf sie Fußfesseln und Meldeauflagen einfach nur unter Annahme einer möglichen terroristischen Gefahr anordnen. Natürlich wurden neue Rechtsgrundlagen für Personendurchsuchungen geschaffen und ärztliche Untersuchungen dürfen ohne Einwilligung angeordnet werden. [1][2]

      Bei wem liegt denn die Zuständigkeit für das federführende Innenministerium? Sabine Sütterlin-Waack (weiblich)

      Schauen wir uns dagegen mal an, wer der letzte Bundesinnenminister war, der den Rechtsstaat gestärkt und sich für Bürgerrechte eingesetzt hat. Das war Gerhard Baum (ALT und MÄNNLICH).

      [1] https://www.polizeigesetz-sh.de/
      [2] https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/IV/_startseite/Artikel2021/I/210226_reform_polizeirecht.html

  4. Natürlich sinkt die Zahl der Straftaten insgesamt, niemand interessiert sich jedoch für Diebstähle oder ähnliches.
    Die Straftaten die das Sicherheitsbefinden trüben sind Straftaten gegen das Leben und Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit die zwischenzeitlich seit 2015 gestiegen sind und langsam wieder das vor 2015 Niveau erreichen. Zusätzlich steigen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit 2015 explosionsartig an.

    Also schauen sie sich die PKS nochmal genauer an, bevor sie so einen unreflektierten Müll verfassen.

    1. Nein, die Gewaltkriminalität sinkt. Und zwar 15,4% gegenüber 2004. Der vorübergehende Anstieg um 2015 waren auch viele Passvergehen, die mit der Migrationssituation in Folge des syrischen Bürgerkrieges zu tun hatten, aber eben keine Gewaltkriminalität. Schauen Sie doch in den Bericht rein, da sind die von der Polizei registrierten Straftaten drin. Insgesamt ist die Kriminalität um etwa 15 % gesunken zwischen 2004 und 2019.

      Und natürlich kann aufgrund von Ermittlungsschwerpunkten die Polizeiliche Kriminalstatistik Änderungen vorweisen, die mit den Schwerpunkten der Polizei zu tun haben. Und natürlich können mit Veränderungen von Technik und Ermittlungsschwerpunkten auch bestimmte Kriminalitätsformen eher erkannt werden.

      Genauso aber es ist doch albern zu glauben, dass die Leute weniger Diebstähle, Körperverletzungen und Raubüberfälle anzeigen. Auch das steht da drin im Bericht. Sie können es wenden wie Sie wollen: die Kriminalität sinkt kontinuierlich und deutlich.

  5. Es ist keine große Erkenntnis, das die Wirklichkeit (und speziell die statistische) bei allen Leuten unterschiedlich gefiltert ankommt (weil es hilft mir relativ wenig, dasd die Gewaltkriminalität zurückgeht, wenn ich Betroffener bin).

    Durch die Vernetzung (soziale Medien) wird die lokale Ausdehnung „im näheren Umfeld“ plötzlich deutschlandweit oder global. Früher wussten nur die Nachbarn, dass da ein Fahrrad entwendet wurde, heute halb Twitter.

  6. Hmm. Die StA stellen massiv Verfahren ein, weil „kein öffentliches Interesse“ oder wegen Bagatelldelikten wenig zu erwarten ist (KV unter Jugendlichen o. innerhalb Gruppen, Diebstahl o. Beleidigung/ Bedrohung usw), an den Gerichten verjähren Verfahren weil massiver Personalmangel. Die Polizei kann gewisse Vorfälle aufgrund Personalmangel nicht anfahren/ aufnehmen und Menschen zeigen oft gar nicht mehr an wegen wenig Aussicht auf Erfolg.

    Geldstrafen statt Gefängnis weil diese voll sind. KV wird eingestellt oder mit den Opfern schon beleidigenden Strafen abgehandelt.
    Verkehrstaten werden dagegen rigoros verfolgt u abgestraft u im Verhältnis zu KV u Eigentumsdelikten sehr oft auch höher etc. pp.
    Das nur aus dem Alltag.

    Korreliert mit dem anhaltenden „Rückgang“ seit 10 Jahren.
    Und im Wissen, dass die PKS die best of der lokalen Fürsten u. Innenminister ist. Es gibt mehrere Arten Anzeigen aufzunehmen u zu verarbeiten. Und eine PKS zu lesen.

    Trotz Allem ist Deutschland tatsächlich eins der sichersten Länder der Welt.
    Wenn auf der Karte allerdings die USA ebenfalls mit Grün im „low risk“ Level dargestellt wird, spricht das wohl Hohn.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.